Wechsel auf komplett neues klinisches Arbeitsplatzsystem deutschlandweit ohne Beispiel
„Wir haben uns bewusst für diesen Weg entschieden“
Das digitale Klinische Arbeitsplatzsystem (KAS) ist das Herzstück einer modernen Klinik. Hier sind alle Patient:innendaten gespeichert, werden Krankenverläufe und Medikamentengaben dokumentiert, Laboranforderungen gelistet. Der Vorteil eines solchen KAS: Es kann in einem speziellen Krankenhausinformationssystem an jedem beliebigen Ort einer Klinik aufgerufen werden – zum Beispiel im Tumorboard, wenn ein interdisziplinäres Team Behandlungsoptionen von Krebspatient:innen festlegt, oder in der Klinikapotheke, wenn die Tabletten für einzelne Patient:innen zusammengestellt werden. Seit Mitte 2021 arbeitet rund ums UKE ein großes Team an der Entwicklung und Implementierung eines neuen KAS, weil für das alte System der Support ausläuft. Die Einführung und Optimierung des neuen, NAVIS genannten Systems sowie die Integration weiterer klinischer Subsysteme wird von der Freien und Hansestadt Hamburg mit rund 40 Millionen Euro gefördert. Der Prozess im UKE ist in der Krankenhauslandschaft in Deutschland ohne Beispiel und wird von vielen Kliniken mit großem Interesse verfolgt. IT-Chef Marco Siebener erläutert im Interview, welche besonderen Chancen das System fürs UKE bietet und wie die Umstellung abläuft.
Interview: Uwe Groenewold, Foto: Axel Kirchhof
"UKE mit elektronischer Patientenakte europaweit auf Platz 1“ haben wir 2011 vermeldet. Jetzt, 13 Jahre später, äußern sich andere Universitätskliniken, dass sie als eine der ersten mit der standardisierten Nutzung der elektronischen Patientenakte begonnen haben. Wo steht das UKE heute in Sachen Digitalisierung, sind wir von Europas Spitze zurückgefallen und nur noch eines unter vielen Krankenhäusern in Deutschland?
Marco Siebener: Bei der Begrifflichkeit müssen wir sehr differenzieren. Wir als UKE haben 2011 als erste Klinik in Europa die höchste Stufe des sogenannten EMRAM-Status erreicht, mit dem der Digitalisierungsgrad in der Klinik gemessen werden kann. Unsere IT-Systeme, insbesondere das klinische Arbeitsplatzsystem Soarian, bieten seitdem die Voraussetzung, komplett digital zu arbeiten und sämtliche Patient:innendokumentationen papierlos und ortsunabhängig abzuwickeln. Hier geht es also um die Binnendigitalisierung innerhalb der Klinik, mit der wir unsere Prozesse rund um die Patient:innenversorgung steuern – und hier sind wir immer noch weit vorn im nationalen und internationalen Vergleich. Das, was jetzt häufig mit dem Begriff elektronische Patientenakte bezeichnet wird, ist etwas anderes: Hierbei handelt es sich um die persönliche digitale Akte der Patient:innen, deren Daten in der Telematik-Infrastruktur gespeichert sind, die von den Patient:innen selbst verwaltet und von Kliniken und niedergelassenen Ärzten:innen gefüllt wird.
Danke für die Unterscheidung. Diese elektronische Patient:innenakte „für Alle“ kann aber auch im UKE ausgelesen werden, oder?
Selbstverständlich, der bundesweite Start soll nach aktuellem Stand 2025 erfolgen. Problematisch ist allerdings, dass bei der Entwicklung der dafür benötigten Telematik-Infrastruktur große, komplexe Krankenhäuser nicht so richtig mitgedacht worden sind.
Das bedeutet?
Um die Daten einsehen zu können, sind ein Kartenlesegerät und ein Konnector, der die Verbindung in das bundesweite Netzwerk der Telematik-Infrastruktur herstellt, notwendig. Das mag in einer Arztpraxis wunderbar funktionieren mit einem oder zwei Geräten dieser Art. In unserem Rechenzentrum stehen knapp 60 Konnectoren, die leider immer mal wieder manuell neu gestartet werden müssen, um ein reibungsloses Auslesen der Krankenkassenkarten zu ermöglichen. Gleiches gilt für das kürzlich eingeführte E-Rezept: Wir haben über 500 Arbeitsplätze im UKE identifiziert, an denen wir Rezepte ausstellen. Neben dem Kartenlesegerät an jedem dieser Arbeitsplätze ist für ein Rezept zwingend ein:e Ärzt:in mit einem elektronischen Heilberufeausweis erforderlich – früher waren hier nur eine Unterschrift und ein Stempel notwendig.
Ist denn die notwendige Software vorhanden?
Damit kommen wir zur aktuellen Herausforderung: Für das bisherige Klinische Arbeitsplatzsystem gibt es keine Weiterentwicklungen und Ergänzungen mehr, wir müssen seit Langem selbst zusätzliche Lösungen erarbeiten, um die elektronische AU, das E-Rezept oder andere Telematik-Infrastrukturdienste nutzen zu können.
Deshalb also der Umstieg auf das neue NAVIS-System?
Richtig! Wir wissen seit einigen Jahren, dass unser bestehendes System ausläuft und befassen uns seitdem intensiv mit einer digitalen Nachfolgelösung, die auf unsere Bedürfnisse als hochdigitalisierte Universitätsklinik zugeschnitten ist. Mit einem Softwarehersteller sind wir Mitte 2021 in ein gemeinsames Umsetzungsprojekt gestartet.
Was ist besonders an NAVIS?
Zunächst einmal: Wir mussten handeln, einen Wechsel des klinischen Informationssystems vollzieht kaum ein Krankenhaus freiwillig. Gleichzeitig wollen wir uns natürlich auch technisch weiterentwickeln und unserem Führungsanspruch in der digitalen Abbildung klinischer Prozesse gerecht werden. Das „Look and feel“ von NAVIS ist deutlich moderner, für die Nutzer:innen gibt es viele neue Funktionen für eine sichere und effiziente Versorgung unserer Patient:innen.
Gibt es Vorbilder für den Umstieg?
Naja, klar haben auch andere Kliniken bereits ihre IT-Systeme erneuert. Aber am deutschen Markt gibt es bisher keine Referenzen in Größenordnung, Komplexität und Digitalisierungsgrad. Das System, das wir bekommen, ist zudem neu entwickelt und viele Funktionen werden daher nach unseren Anforderungen und Ansprüchen programmiert. Das eröffnet uns als UKE viele Möglichkeiten, Einfluss nehmen zu können. Diese einmalige Gelegenheit bringt zugleich eine sehr hohe Komplexität mit sich. Wir haben uns für diesen zukunftsweisenden Weg bewusst entschieden, um unsere Rolle als eine der fortschrittlichsten Kliniken weiter auszubauen.
Wann geht´s los?
Wir starten aktuell im zum UKE gehörenden Altonaer Kinderkrankenhaus (AKK), anschließend folgen dann die Kliniken im UKE.
Warum zunächst im AKK?
Es ging darum, einen möglichst gut abgrenzbaren Bereich auszuwählen, da bot sich das AKK an. Die Erfahrungen, die vor Ort dann gesammelt werden, können für den Start im UKE von großer Bedeutung sein.
Was sind die besonderen Herausforderungen?
Aktuell arbeiten insgesamt knapp 8000 Kolleg:innen in UKE, AKK und weiteren UKE-Kliniken mit dem alten System – den feierlichen Moment, wo wir den Hebel umlegen und das eine System komplett ab- und das andere anschalten, wird es nicht geben. Beide Systeme arbeiten vorübergehend parallel nebeneinander, der Umstieg erfolgt sukzessive. Es gibt eine Vielzahl von Schnittstellen, über die ständig Daten zwischen den Systemen ausgetauscht werden. Wir haben ein starkes Sicherheitsnetz gespannt, damit alle wichtigen Informationen zu den Patient:innen immer verfügbar sind.
Sicherheit ist ein gutes Stichwort. In den zurückliegenden Wochen und Monaten wurden deutschlandweit immer wieder Kliniken von Hackern angegriffen. Können Sie Details nennen, wie sich das UKE davor schützt?
Wir gehören als Maximalversorger zur sogenannten kritischen Infrastruktur. Demzufolge ist es von gesellschaftlicher Bedeutung, dass unsere Systeme sicher vor Eindringlingen sind. Wie wir insbesondere die sensiblen Patient:innendaten schützen, können wir selbstverständlich nicht preisgeben. Für uns spielt Datensicherheit jedoch schon immer eine ausgesprochen große Rolle; spätestens seit dem Hackerangriff auf die Uniklinik Düsseldorf 2020 sind alle Krankenhäuser in Deutschland hier nochmals deutlich sensibler geworden. Problematisch für die Kliniken ist, dass Cybersicherheit viel Geld kostet und es seitens der Kostenträger und der politischen Institutionen dafür bislang kein nachhaltiges Finanzierungskonzept gibt.
Vielen Dank für das Gespräch!