Herzensbrecher mit halbem Herzen
Zwillinge, Jungs. Yasemin und Cengiz Balota waren glücklich, als sie beim ersten Ultraschall zwei pochende Herzchen sahen. Dann der Schock: Ein Kind hat nur ein halbes Herz. Doch Kian (2) ist ein Kämpfer.
Wie zerbrechlich das Glück war, erfuhr sie, als es am größten war. Die ersten drei Monate der Schwangerschaft waren vorbei, die kritischen, und Yasemin Balota hatte es schon allen gesagt: Wir werden noch einmal Eltern. Zwillinge, zwei Jungs. Die Babys schwebten in ihren Fruchtblasen. Ärmchen, Beinchen, Stupsnäschen konnte man bereits erkennen. Ein Baby ballte die Fäustchen. Wenn sie heute auf die Untersuchung zurückblickt, ist da nur noch der Satz der Ärztin: „Da stimmt was nicht.“ Es war Kians Herz, das nicht stimmte. Doch noch war es nur ein Verdacht.
Wenn Paare Eltern werden, kommt Freude auf, aber da sind auch Sorgen: Was ist, wenn das Kind krank ist? Eines von hundert Neugeborenen kommt mit einem angeborenen Herzfehler auf die Welt. Einige Fehlbildungen an Organen kann man tatsächlich bereits im vierten Monat sehen. Da Mehrlingsschwangerschaften immer auch Risikoschwangerschaften sind, wurde die Mutter engmaschig untersucht. „Das sind zwei Boxer", sagte sie zu ihrem Mann Cengiz. Auch Tochter Amira durfte fühlen, wenn ihre Brüder im Mutterleib strampelten.
Diagnose ein Schock für die Eltern
Dann kam die 20. Woche, wieder ein Ultraschall: Feindiagnostik der Organe. Die Frauenärztin fuhr mit dem Schallkopf über den gewölbten Bauch. Auf dem Computerbildschirm hüpften rote und blaue Punkte. Sie zeigten Funktion und Pumpleistung der zwei Herzen. Stille. Konzentration. Dann sagte die Ärztin vorsichtig: „Es gibt Merkmale, dass einem der beiden Kinder ein halbes Herz fehlt.“ Wieder Stille. Diesmal war es der Schock.
Im Mutterpass steckte ein gelber Schein mit einer Überweisung in die Klinik für Geburtshilfe und Pränatalmedizin im UKE. Die Erklärungen hallten noch nach: Die rechte Herzkammer pumpt das Blut zur Lunge, wo es Sauerstoff tankt. Die linke Herzkammer pumpt das Blut von der Lunge in den Körper, wo es Gefäße und Organe mit dem Sauerstoff versorgt. Die Tage bis zum Termin im UKE kamen den werdenden Eltern unendlich lang vor. Doch Cengiz Balota gab seiner Frau Halt: „Gemeinsam schaffen wir das.“ Vor wenigen Jahrzehnten wurden Säuglinge mit einem „Hypoplastischen Linksherzsyndrom“, wie die Diagnose korrekt heißt, nur wenige Tage alt. Heute können Chirurg:innen ihnen viele Jahre, sogar Jahrzehnte, schenken. Dazu formen sie das walnussgroße Babyherz in drei Operationen so um, dass die eine Kammer für zwei pumpt. Ziel ist es, eine Sauerstoffsättigung von über 90 Prozent zu erreichen.
Der 22. September 2021 war ein Mittwoch. Sechs Wochen vor dem errechneten Termin setzten die Wehen ein. Als die Mutter in den Kreißsaal kam, war das OP-Team bereits da. Früh am Morgen kamen die Zwillinge Imano und Kian zur Welt. Imano ging es gut, Kian dagegen war nur knapp 40 Zentimeter groß,1450 Gramm schwer. Das zarte Frühchen sollte sofort auf die Intensivstation in der Kinderherzklinik gebracht werden „Halt“, riefen die Eltern. Sie wussten, dass ihr Junge schnell Medikamente brauchte, aber sie wollten wenigstens einen ersten, kurzen Blick auf ihr Kind werfen und ihn im Leben begrüßen.
Andere Eltern erzählen vom ersten Lächeln, die Balotas von Arztgesprächen
Bevor sie Mutter wurde, arbeitete Yasemin Balota als Teamleiterin bei einem Personaldienstleister. Ihr Mann Cengiz ist Bauingenieur. Beide sind es gewohnt, nüchtern auf Dinge zu schauen. Andere Eltern erzählen vom ersten Lächeln, die Balotas von Gesprächen mit Ärzt:innen, Bildern von der Intensivstation: Kian, winzig klein, an großen Apparaturen mit vielen Schläuchen. Kein Kind, das etwas zu lachen hatte – aber mit den blauen Kulleraugen betörte es alle: „Ein Herzensbrecher mit einem halben Herz“, sagt Kians Vater. Es gibt Fotos, wie der Kleine selig auf seinem Bauch auf der Intensivstation liegt. Auch Bruder Imano durfte ganz nah bei Kian sein. Zusammen schliefen sie in einem Bettchen.Als hätte er gehört, was die Eltern erzählen, tapst ein kleiner blonder Junge um die Ecke und sagt: „Mama smusen.“ Seine Mutter nimmt Kian auf den Schoß und wuschelt ihm zärtlich durch die Haare. Er muss alle sechs Monate zur Kontrolle. Der Termin ist nur einer von vielen, die im vollen Familienkalender stehen. Die Eltern sagen: „Wer nichts von seinem Herzfehler weiß, bemerkt keinen Unterschied zu seinen Kita-Feunden .
Jedes Jahr operieren die Kinderherzchirurg:innen im UKE mehr als 500 Mädchen und Jungen, rund 300 von ihnen sind erst wenige Tage alt. Kians Herz hat sich falsch entwickelt, weil es wahrscheinlich bereits kurz nach der Befruchtung zu Fehlern bei der Zellteilung kam. „Die linke Kammer ist reiskorngroß, die rechte verdreht, die Hauptschlagader stark verengt“, hatte Kinderherzchirurg Dr. Daniel Biermann den Eltern während der Schwangerschaft erklärt. „Zum Glück waren wir gut informiert und konnten uns darauf einstellen“,sagt Cengiz Balota.
Obwohl man sich auf vieles, was nach der Entbindung kam, nicht vorbereiten kann. Drei komplizierte Operationen. Nächte ohne Schlaf, die Sorgen um Kian, und die beiden anderen Kinder Imano und Amira waren auch noch da. Vater, Großeltern, Onkel und Tanten haben geholfen – die ganze Familie hat zusammengestanden.
Kian war zwei Wochen alt, als seine kleine Brust geöffnet wurde. Damit die rechte Herzkammer auch für die linke pumpt, werden bei der sogenannten Norwood-Operation unter anderem Schlagadern verlegt und neu verbunden. Alles ging gut. Dann kam der Winter: Infekte, Nächte am Kinderbettchen, immer wieder Einweisungen in die Klinik. Kian hatte keine Kraft zu trinken, konnte den Schleim nicht abhusten, verlor Gewicht. Jede Stunde bekam er ein Fläschchen. 30 Milliliter, 50 Milliliter,70 Milliliter. Schluck für Schluck, ganz langsam ging es bergauf.
Kian wuchs – und mit ihm sein Herz. Vier Monate später der nächste Eingriff, die sogenannte Glenn-Operation. Diesmal wurden Arterien und Venen neu verknüpft, um den Pumpmuskel zu entlasten, der mit dem Alter immer mehr Kraft braucht. Die Eltern warteten vor dem Operationssaal. Kian, der Kämpfer überstand auch diese OP.
Kian genauso lebhaft wie sein Bruder
Zu Hause, in der Wohnung mit dem großen Spielzimmer und dem langen Flur, stehen heute Roller, Bobby Cars und Laufräder. Vor zwei Stunden hat die Mutter die Jungs aus der Kita geholt. Jetzt seufzt sie, es ist ein glücklicher Seufzer: „Die beiden raufen wieder.“ Ihr Mann hat früher Feierabend. Imano ruft: „Papa!“ Kian flitzt vorbei, drückt Papa als erster und grinst wie ein Sieger. Später ist die Familie im Esszimmer. Kian verspeist genüßlich ein Stück Kuchen. Imano blubbert im Wasserbecher. Amira hüpft auf dem Sofa. Ein Spielzeug-Porsche fliegt. Kian schaut unschuldig, sagt: „Auto, brumm, brumm.“
Zur Zeit hat Kian eine Sauerstoffsättigung im Blut von durchschnittlich 85 Prozent, ein bisschen fehlt noch. Weil er es nicht anders kennt, lebt er gut damit und teilt seine Kräfte optimal ein: klettert, tobt, spielt Fußball. Bald wird er noch einmal operiert. Nach der sogenannten Fontan-Operation gelangt dann sauerstoffarmes Blut über ein Kunststoffimplantat direkt in seine Lunge – und versorgt ihn dann optimal mit Sauerstoff. Tatsächlich ist alles natürlich viel komplizierter .Aber für die Familie zählt nur eines: Dass Kian die Chance auf ein möglichst normales Leben hat, in dem er glücklich ist, Wünsche hat und diese auch in Erfüllung gehen.