Lebensqualität verbessern
Immer kleinere Beatmungsgeräte ermöglichen Eltern die Betreuung beatmeter Kinder zu Hause. Die Anforderungen an die Familien sind hoch, zudem mangelt es an psychosozialer Unterstützung. Das wollen Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe und ihr Team ändern. Sie betreten Neuland.
Strohblonde Haare, strahlend blaue Augen und ein verschmitztes Lächeln, mit dem der vierjährige Joel nicht nur seine Mutter Melanie bezirzt, auf deren Schoß er für das Gespräch mit Prof. Wiegand-Grefe und Lydia Morgenstern aus dem UKE Platz genommen hat. Vergnügt singt der kleine Kerl vor sich hin. Alles scheint in bester Ordnung – doch das weiße Band um den Hals, aus dem eine Plastikkanüle mit einem Stöpsel hängt, zeigt: Um zu leben, ist er wie rund 2000 Kinder in Deutschland auf eine künstliche Beatmung angewiesen. Von Geburt an fehlen dem Jungen aus unerfindlichen Gründen die rechten Rippen. Seine Wirbelsäule war verkrümmt, die Lunge zu klein, er musste rund um die Uhr beatmet werden. Alle sechs Monate reisen Mutter und Kind seitdem aus der Nähe von Münster in den Lufthafen des Altonaer Kinderkrankenhauses. In der 2011 von Oberarzt Dr. Benjamin Grolle initiierten, bundesweit einmaligen Einrichtung soll Familien mit beatmeten Kindern das Leben erleichtert werden. 200 Kinder kommen jährlich zur Behandlung in den Lufthafen, können in dieser Zeit mit Mutter oder Vater hier leben. „Mittlerweile kommen wir ganz gut zurecht. Die Beatmungsmaschine braucht Joel nur noch nachts“, antwortet die Mutter auf die Frage von Silke Wiegand-Grefe nach der alltäglichen Belastung. Basierend auf Gesprächen mit Angehörigen will Familientherapeutin Wiegand-Grefe mit ihrem Team ein modulares Beratungskonzept entwickeln und erproben.
Joels Eltern traf es damals völlig unvorbereitet. „Es wäre schön gewesen, wir hätten vor der Geburt gewusst, worauf wir uns einstellen müssen“, sagt Mutter Melanie. Vier Monate bangten die Eltern um das Leben ihres Kindes; sie standen vor einem Berg von Bürokratie und juristischen Fragen, mussten nicht nur zu guten Eltern werden, sondern auch zu Experten für künstliche Beatmung und zu Managern eines bis ins kleinste Detail geplanten Alltags mit 24-Stunden-Pflege, Krankengymnastik, Logopädie, Arztterminen und Berufstätigkeit.
Jeder Fehler kann tödlich sein
Die Fürsorge für das erkrankte Kind prägt den Alltag und erfordert große Disziplin: Jeder Fehler, jede Nachlässigkeit kann tödliche Folgen haben. „Das unterscheidet diese Familien vom Leben mit Kindern, die andere Handicaps haben. Unsere Pilotstudie aus 2014 ergab denn auch, dass die Lebensqualität der Eltern von beatmeten Kindern vergleichsweise schlechter ist“, sagt Prof. Wiegand-Grefe. Die von der Werner Otto Stiftung finanzierte Studie zeigt, dass 93 Prozent der Mütter und 91 Prozent der Väter eine maßgeschneiderte psychosoziale Unterstützung begrüßen, rund 70 Prozent würden sie wohl auch in Anspruch nehmen. Wissenschaftlich basierte Interventionsmethoden, um die Lebensqualität dieser Familien zu verbessern, gibt es aber bislang nicht. Um das in den kommenden zwei Jahren zu ändern, kooperiert das Team von Silke Wiegand-Grefe (Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik) mit Partnern aus dem Lufthafen des Altonaer Kinderkrankenhauses, der Neuropädiatrie (Klinik für Kinder- und Jugendmedizin) und dem Institut für Medizinische Biometrie und Epidemiologie. Die Mediziner und Psychologen betreten mit dem von der Dräger-Stiftung unterstützten Projekt Neuland. „Eines ist leider schon jetzt klar: Ein Angebot für alle wird etwas Zeit erfordern“, schränkt Prof. Wiegand-Grefe ein. Ein Grund dafür: In der Pilotstudie zählten die Forscherinnen bei 69 Familien 33 unterschiedliche Diagnosen – mit jeder sind andere Belastungen verwoben. Langfristig soll das Konzept jedoch flexibel angepasst und allen Familien in Deutschland angeboten werden.
Auch Geschwister belastet
Vor einer Herausforderung stehen gleichwohl alle Familien: Die Abhängigkeit von Beatmungsgeräten oder Rollstühlen und die Notwendigkeit, Zeitpläne exakt einzuhalten, schaffen Barrieren. „Es fängt damit an, dass man nicht spontan mit dem Kind einkaufen, in den Zoo, zum Schwimmen oder Eis essen gehen kann, sondern eine Stunde braucht, um alle benötigten Geräte einzupacken“, beschreibt Joels Mutter die ersten Jahre, als ihr Junge noch permanent beatmet werden musste. „Zudem gibt es immer Menschen, die irritiert gucken, auch im Freundeskreis.“ Sich darüber hinwegzusetzen, erfordert Courage. Die Stigmatisierung trifft dabei nicht nur Eltern, sondern auch Geschwister. „Oft übernehmen sie schon in jungen Jahren nicht nur Verantwortung für ihre erkrankten Geschwister, sondern für das Gelingen des Alltags in den Familien“, sagt Lydia Morgenstern, wissenschaftliche Projektmitarbeiterin. Was das für ihre Entwicklung bedeutet, ist bislang unklar. Für Joel dagegen ist klar, dass das Gespräch jetzt lang genug gedauert hat. Er will endlich ein Eis essen und wieder nach Hause, mit Opa Trecker fahren und in seinen Kindergarten.
Text: Angela Grosse
Fotos: Axel Kirchhof