Beben im Kopf
Wird am Kinderkompetenzzentrum „Kinder KOMPT“ ein Säugling mitVerdacht auf Schütteltrauma untersucht, stellen die Ärzte nicht nureine medizinische Diagnose. Sie sammeln Beweise, denn immer schwingtder Verdacht mit: Wurde das Kind misshandelt?
„Das Problem ist, dass wir mit forensischer Sicherheit zu einer Einschätzung kommen müssen“, sagt Jan Sperhake. Der Professor für Rechtsmedizin gehört zum Ärzteteam des Kinderkompetenzzentrums im UKE. Gerichte wollten ein klares Bild, um unter Umständen ein Urteil fällen zu können. Andererseits dürfe er nichts übersehen: „Das wäre eine Katastrophe, wenn man die Eltern beschuldigt, obwohl das Kind eigentlich eine schwere Krankheit hat oder die Verletzungen tatsächlich Folge eines Unfalls sind.“ Aus diesem Grund werden Sperhake und seine Kolleginnen am vor zehn Jahren gegründeten Zentrum immer wieder bei Verdachtsfällen von Krankenhäusern, Jugendämtern oder der Polizei um ihre Meinung gebeten.
Rund 600 Mal pro Jahr überprüfen sie dann Akten oder nehmen die Kinder selbst in Augenschein. In fast allen Fällen leben die kleinen Patienten noch. Fälle wie die dreijährige Yagmur, die wiederholt von ihrer Mutter geschlagen wurde und im Dezember 2013 starb, erregen zwar Aufsehen. „Von der Öffentlichkeit unbemerkt bleibt aber oft, dass Misshandlungen – Schläge, Vernachlässigung oder sexueller Missbrauch – für viele Kinder alltägliche Erfahrungen sind“, sagt der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin, Prof. Dr. Klaus Püschel. Gewalt gegen Kinder sei eine chronische Krankheit, die in Familien über Generationen weitergegeben wird. „Und häufig werden die Zeichen solcher Taten auch von denjenigen nicht erkannt oder ignoriert, die engen Kontakt mit diesen Kindern haben: von Ärzten, Erziehern, Lehrern oder Verwandten.“
Nervenbahnen und Adern beschädigt
Beim Schütteltrauma ist eine sichere Diagnose besonders schwer. Denn das Schütteln hinterlässt nur selten sichtbare Spuren. „Meistens sieht man von außen gar nichts“, sagt Prof. Sperhake. Es sei denn, das Kind wurde schon vorher auf andere Art misshandelt. Die typischen Verletzungen sind die Folgen eines Bebens im Kopf: Weiche Gewebe wie das Gehirn und die Augäpfel werden durch das Schütteln in ihren harten Hüllen, dem Schädelknochen und den Augenhöhlen, ruckartig hin und her geworfen. Feine Blutgefäße werden gequetscht und reißen dadurch. Das Ausmaß der Verletzungen wird erst in der Klinik mit bildgebenden Verfahren sichtbar: Blutungen unter der Hirnhaut und diffuse Hirnschäden gelten als typische Zeichen eines Schütteltraumas. Das dritte typische Symptom sind Netzhautblutungen, die nur feststellen kann, wer mit einem Augenspiegel durch die Pupille hindurch den Augenhintergrund untersucht.
Die Folgen des Schüttelns können dramatisch sein: In schweren Fällen ist das Kind sofort tot. Manche Kinder sterben nach Wochen auf der Intensivstation. Andere überleben schwerstbehindert und müssen dauerhaft gepflegt werden. In leichteren Fällen haben die Kinder Bewusstseinsstörungen oder Krampfanfälle. Sie sind oft müde oder weinerlich, haben Bewegungsstörungen oder sind lernbehindert.
Säuglinge als typische Opfer
Die Opfer sind nahezu ausschließlich Säuglinge, in seltenen Fällen Kinder bis zu zwei Jahren. Das hat mehrere Gründe: Säuglinge sind klein und leicht und damit für einen Erwachsenen einfacher zu packen als ältere Kinder. Zudem schreien Kinder im Säuglingsalter mehr als ältere Kinder. Sie sind damit häufiger Opfer von gewalttätigen Erwachsenen, denen die Sicherungen durchbrennen. Hinzu kommt: Die Nackenmuskulatur ist bei Säuglingen noch nicht vollständig ausgebildet. Ältere Kinder können gegenspannen. „Der Kopf eines Säuglings fliegt beim Schütteln ungebremst hin und her“, erklärt Priv.-Doz. Dr. Jakob Matschke vom Institut für Neuropathologie des UKE. Matschke gehört nicht zum Team des Kinderkompetenzzentrums. Er ist Experte für Hirnschäden. Die Kinder, die er untersucht, sind tot. Aber warum eigentlich? Sicher ist: Die Hirnhautblutungen sind beim Schütteltrauma nicht lebensbedrohend. Das eigentliche Problem sind die diffusen Schädigungen des Hirngewebes. „Warum sie tödlich sind, haben wir lange nicht verstanden“, sagt der Neuropathologe.
Warum sterben die Kinder?
Gemeinsam mit den Kollegen der Rechtsmedizin und Wissenschaftlern anderer Unikliniken hat er nach Antworten gesucht. Die Ergebnisse wurden in diesem Jahr veröffentlicht: Durch das Schütteln werden Nervenzellen im Hirnstamm, der Region, in der das voluminöse Gehirn ähnlich wie der Hut eines Pilzes auf dem Stiel sitzt, verletzt. Unglücklicherweise befindet sich dort mit dem Atemzentrum auch jene Hirnregion, die das Atmen steuert. „Wird es beschädigt, atmen die Kinder nicht mehr. Der dadurch entstehende Sauerstoffmangel führt dann zu einem diffusen Hirnschaden“, erläutert Dr. Matschke. Gerade das Säuglingsgehirn sei besonders anfällig für einen Sauerstoffmangel und die damit verbundene Hirnschwellung, da die Blut-Hirn-Schranke noch nicht ausgereift und voll funktionstüchtig sei.
Angesichts der juristischen Konsequenzen, die aufgrund der Diagnose „Schütteltrauma“ einem mutmaßlichen Täter drohen, wird unter Medizinern diskutiert, wie aussagekräftig die drei Leitsymptome eigentlich sind. Ein Streitpunkt sind die Hirnhautblutungen. Können sie, auch wenn andere mögliche Ursachen wie eine Blutgerinnungsstörung oder Stoffwechselerkrankungen ausgeschlossen wurden, die Grundlage für ein Urteil sein? Wären nicht auch andere Ursachen wie ein Sauerstoffmangel denkbar?, fragen Skeptiker. „Von solchen Zweifeln lebt die Wissenschaft“, sagt Rechtsmediziner Sperhake. Man habe daher noch mal alte Akten durchforstet. Die Auswertung vieler Fälle, in denen Säuglinge Sauerstoffmangel hatten, zum Beispiel durch Beinaheertrinken oder den plötzlichen Kindstod, bestätigte schließlich die Lehrmeinung: Die häufigste Ursache für Hirnhautblutungen bei Säuglingen ist das Schütteltrauma. „Das grundsätzliche Problem bleibt jedoch bestehen“, so der Rechtsmediziner, „wir können immer nur schlussfolgern. Denn niemand ist dabei, wenn ein Kind tatsächlich geschüttelt wird.“
Mit bildgebenden Verfahren lassen sich Einblutungen im Hirn leicht nachweisen:
Text: Arnd Petry
Fotos: Axel Kirchhof