MultiCare AGENDA: Verbesserung der medizinischen Versorgung multimorbider Patienten

Ingmar Schäfer, Martin Scherer, Hendrik van den Bussche

Fragestellungen

Die MultiCare AGENDA‐Studie untersuchte die Wirksamkeit einer komplexen Intervention, die darauf abzielte, dem Patienten im Rahmen einer „narrativen Medizin“ in mehreren ausführlichen Konsultationen den Raum zu geben, seine Gesundheitsprobleme zu beschreiben ohne dass der Arzt direktiv eingreift, um die „Agenda“ (d.h. die Behandlungsziele) und die Bedürfnisse des Patienten zu identifizieren. Im Rahmen der Intervention fand auch ein narrativer Medikamentencheck mit Brown‐Bag‐Review statt. Unsere Hypothese war, dass eine patientenzentrierte Kommunikation zu einer Verringerung der Anzahl der Medikamente führen würde, ohne dass dabei die gesundheitsbezogene Lebensqualität des Patienten beeinträchtigt wird.

Intervention

Die Patienten der Interventionsgruppe erhielten innerhalb von 12 Monaten drei narrative hausärztliche Gespräche von ca. 30 Minuten Dauer, in denen – basierend auf den Narrationen des Patienten – zwischen Arzt und Patient zunächst Ziele vereinbart wurden (erstes Perspektivengespräch). Direkt im Anschluss an das erste Gespräch erfolgte eine weitere Konsultation von ca. 30 Minuten Dauer, die einen Medikamenten‐Check zum Inhalt hatte, der ebenfalls mit Hilfe der narrativen Gesprächsführung durchgeführt wurde. Nach 12 Monaten wurde schließlich die Zielerreichung narrativ diskutiert (zweites Perspektivengespräch).

Methodik

Multicare AGENDA hatte das Studiendesign einer zweiarmigen cluster‐randomisierten, kontrollierten Studie in der hausärztlichen Versorgung, wobei eine Interventionsgruppe gegen eine Kontrollgruppe der Versorgung „as usual“ getestet wurde. Die Studie wurde in Hamburg, Düsseldorf und Rostock durchgeführt. Die Hausarztpraxen wurden zufällig ausgewählt und Patienten wurden mitsamt ihrem Arzt per Zufall der Interventions‐ oder Kontrollgruppe zugewiesen. Als primäre Endpunkte wurden zwei Variablen definiert: 1. die Anzahl der Medikamente, die vom Patienten eingenommen wurden; 2. die gesundheitsbezogene Lebensqualität, operationalisiert über den Score des Patienten im EQ‐5D Value Set. Als Studienhypothese wurde angenommen, dass durch die Intervention die Anzahl der Medikamente zwischen Baseline und Follow‐Up um durchschnittlich mindestens 0,5 Medikamente pro Patient reduziert werden könnte. Sekundäre Endpunkte waren das Wissen des Hausarztes über die vom Patienten eingenommene Medikation, Patientenzufriedenheit, Empowerment sowie die Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen (Kontakte zu Hausärzten und Fachspezialisten in den letzten drei Monaten; Krankenhaustage in den letzte sechs Monaten; Verordnungen von Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie in den letzten drei Monaten).

Die Studie wurde von der Ethikkommission der Hamburger Ärztekammer begutachtet und am 1.7.2011 genehmigt (Bearb.-Nr. PV3788). Ein Eintrag im Studienregister ISRCTN erfolgte am 28.11.2011 ( ISRCTN46272088 ).

Ergebnisse

Insgesamt konnten 305 Patienten aus 27 Praxen für die Kontrollgruppe und 299 Patienten aus 28 Praxen für die Interventionsgruppe in die Studie eingeschlossen werden. Die Patienten nahmen durchschnittlich 7,0 Medikamente bei Baseline und 6,8 Medikamente beim Follow-Up ein. Dabei wurde kein Unterschied zwischen Interventions- und Kontrollgruppe gefunden. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität entwickelte sich in beiden Gruppen vergleichbar. Allerdings fand sich in der Interventionsgruppe ein um den Faktor zwei erhöhtes (relatives) Risiko, eine neue Verordnung für Analgetika zu erhalten. Die Inanspruchnahme des Hausarztes erhöht sich leicht in der Interventionsgruppe (+0,5 Kontakte in den letzten drei Monaten). Demgegenüber wurden in der Interventionsgruppe die Krankenhausaufenthalte um durchschnittlich 3,1 Tage reduziert und die Heilmittelinanspruchnahme sank um durchschnittlich 1,4 Verordnungen. Die anderen sekundären Endpunkte wurden durch die Intervention nicht beeinflusst.

Veröffentlichungen

Schäfer I, Kaduszkiewicz H, Mellert C, Löffler C, Mortsiefer A, Ernst A, Stolzenbach CO, Wiese B, Abholz HH, Scherer M, van den Bussche H, Altiner A. Narrative medicine-based intervention in primary care to reduce polypharmacy: results from the cluster-randomised controlled trial MultiCare AGENDA. BMJ Open. 2018;8:e017653.

Mortsiefer A, Altiner A, Ernst A, Kadusziewicz H, Krahe A, Mellert C, Schäfer I, Stolzenbach CO, Wiese B, Löffler C. Satisfaction with general practice care in German patients with multimorbidity: a cross-sectional study. Fam Pract. 2017;34:452-458.

Löffler C, Altiner A, Streich W, Stolzenbach CO, Fuchs A, Drewelow E, Hornung A, Feldmeier G, van den Bussche H, Kaduszkiewicz H. Multimorbidität aus Hausarzt- und Patientensicht. Qualitative Studie. Z Gerontol Geriat. 2015;48:452.

Altiner A, Schäfer I, Mellert C, Löffler C, Mortsiefer A, Ernst A, Stolzenbach C, Wiese B, Scherer M, Bussche van den H, Kaduszkiewicz H, van den Bussche H. Activating GENeral practitioners Dialogue with patients on their Agenda (MultiCare AGENDA) study protocol for a cluster randomized controlled trial. BMC Fam Pract. 2012;13:118.

Löffler C, Kaduszkiewicz H, Stolzenbach CO, Streich W, Fuchs A, van den Bussche H, Stolper F, Altiner A. Coping with multimorbidity in old age – a qualitative study. BMC Family Pract. 2012;13:45.

Kaduszkiewicz H, Streich W, Fuchs A, Stolzenbach CO, Löffler C, Wiese B, Steinmann S, Scherer M, van den Bussche H, Abholz HH, Altiner A. Kann die hausärztliche Versorgung multimorbider Patienten in Deutschland mithilfe des Chronic Care Modells verbessert werden? - Ergebnisse der Pilotierung der cluster-randomisierten, kontrollierten Interventionsstudie MultiCare 4. Z Gerontol Geriatr. 2011;44:95-8.

Förderer: Bundesministerium für Bildung und Forschung (01ET0725-0733 und 01ET1006A-K).

Laufzeit: Januar 2008 bis Dezember 2014.

Ansprechpartner: Ingmar Schäfer