„... nicht in den Wagen zu spucken.“
„Zur Förderung der öffentlichen Gesundheitspflege wird dringend ersucht, nicht in den Wagen zu spucken.“ Diese Aufforderung brachte jahrelang viele Besucher/innen unseres Museums zum Schmunzeln. Das kleine, unscheinbare Blechschildchen war eines von vielen, wie sie um 1900 auf Bahnhöfen, in Straßenbahnwaggons und anderen öffentlichen Orten angebracht wurden. „Zum Husten, Niesen, Spucken bediene Dich des Taschentuches!“, hieß es auf einem anderen.
Hinweise wie diese mögen auf den ersten Blick überflüssig erscheinen, gebietet doch der Anstand, dass man aus Rücksicht auf andere Menschen das Spucken in der Öffentlichkeit sein lässt. Aber Sitten und Gebräuche ändern sich. So galt das Spucken noch im 16. Jahrhundert als reinigender Akt. „Das Herunterschlucken von Speichel ist eine Unsitte“, wird der Gelehrte Erasmus von Rotterdam zitiert. Entsprechend ungeniert spuckten die Zeitgenoss/innen sowohl im Freien als auch in der Wohnung auf den Fußboden.
Seit dem 18. Jahrhundert veränderte sich diese Wahrnehmung zusehends. Die Benimmregeln – vor allem im privaten Haushalt – wurden schärfer. Spucknäpfe hielten ihren Einzug in die Wohnzimmer. Für einen endgültigen Wandel sorgte jedoch erst die Hygiene-Bewegung des späten 19. Jahrhunderts und der damit verknüpfte Siegeszug der Bakteriologie. Der Speichel galt jetzt nicht mehr nur als eklig, sondern wurde als Krankheitserreger identifiziert.
Die Ansteckung mit Tuberkulose erfolgt fast immer durch Tröpfcheninfektion. Studien aus den 1950er Jahren belegen: Fast alle Menschen in Deutschland hatten Kontakt mit dem Erreger. Nicht alle entwickelten Symptome. Die Krankheit brach vor allem bei Menschen aus, die durch Vorerkrankungen, Mangelernährung und Alter an einem geschwächten Immunsystem litten. Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts galt die Tuberkulose als „Volksseuche“.
Aus gutem Grund. Mitverantwortlich für die explosionsartige Ausbreitung der Tuberkulose um die Wende des 19. auf das 20. Jahrhundert waren die mangelhafte Gesundheitsversorgung und die schlechten Wohnverhältnisse der ärmeren Bevölkerung. Besonders in Großstädten konzentrierten sich in den Arbeiterquartieren wie dem bekannten Hamburger „Gängeviertel“ viele Menschen auf kleinem Raum.
Schlechte Belüftung, unhygienische Zustände in den Wohnungen, die für große Familien oft nur aus einem einzelnen Raum bestanden, machten die Ansteckung mit der Tuberkulose im unmittelbaren Umfeld sehr wahrscheinlich. Um der Tuberkulose und anderen Erkrankungen Herr zu werden, setzten Staat und Kommunen Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland auf umfassende gesundheitspolitische Maßnahmen. Zwischen Fürsorge und Kontrolle schwankte auch das Vorgehen der Hamburger Behörden, mit denen sich unser Ausstellungsraum „Fortschritt und Erfassung“ beschäftigt.
Dazu gehörten im Kampf gegen die Tuberkulose eben jene Gesundheitskampagnen. Schilder und Plakate sollten die Bevölkerung auf die Ansteckungswege der Seuche aufmerksam machen und so ein Bewusstsein für die Eigenverantwortung jedes Einzelnen schaffen.
Aufkärungsplakate warnten vor kontaminierten Oberflächen, Staub und Dreck. Auch Lebensmittel wie Milch konnten den Erreger verbreiten. Dabei war in der Regel nicht erheblich, ob die Milchkuh selbst an Tuberkulose litt – ganz im Gegenteil: mit der für Menschen nicht ganz so schädlichen Rinder-Tuberkulose wurde sogar geimpft. Eher gelangten vom Menschen stammendeTuberkulose-Bakterien, die sehr lange auf Oberflächen oder Staubablagerungen überleben, in die Milch. Durch kurzzeitige Erhitzung des Lebensmittels (Pasteurisierung) konnten die Bakterien unschädlich gemacht werden. Auch verwiesen die Plakate darauf, dass sich spielende Kinder auf der Straße durch den Kontakt mit infiziertem Speichel anstecken könnten. Ebenso wurde vor dem Kontakt zu Erkrankten gewarnt und empfohlen, größere Menschenansammlungen zu meiden. „Social Distancing“, wie wir es derzeit praktizieren, war also auch bereits zur Bekämpfung von Tuberkulose angeraten.
Viele Elemente unseres heutigen Gesundheits- und Sozialsystems wurden im Rahmen dieser staatlichen Maßnahmen in den 1920er Jahren eingeführt und bilden historisch gesehen die Grundlage heutiger Präventionsarbeit. Dazu gehörten auch die Identifizierung und Behandlung der Erkrankten. Groß angelegte Röntgenuntersuchungen wurden eingesetzt, um Tuberkulosepatient/innen direkt zu erkennen und bei Feststellung zu behandeln.
Was geschah also mit denjenigen, die sich mit Tuberkulose infiziert hatten? In Ermangelung einer effektiven Therapie waren lang andauernde Kuraufenthalte die Regel. Weit außerhalb der Städte gelegene Tuberkulosesanatorien, sogenannte Lungenheilanstalten, wie beispielweise das 1899 eröffnete „Theklahaus“ in Geesthacht bei Hamburg, isolierten und behandelten die Kranken fernab vom Rest der Bevölkerung.
Es galt vor allem, das Leiden der Patient/innen zu mildern und das Fortschreiten der Infektion zu verzögern. Die Tuberkulose war eine Infektion, die nicht nur entzündlich war, sondern auch Gewebe zerstörte. Für Patient/innen mit Lungentuberkulose bedeutete dies ein Abnehmen der Atemkapazität durch die Zerstörung der Lunge. Aus diesem Grund sieht man auf historischen Bildern der genannten Lungenheilanstalten Patient/innen aufrecht in Krankenbetten „liegen“. Diese Position erleichterte das Atmen.
Dennoch: Ein großer Teil der Patient/innen starb an der „Schwindsucht“. Allein in den ersten fünf Jahren lag die Sterblichkeit bei Lungentuberkulose bei ca. 35%. Einige litten bis zu ihrem Tod viele Jahrzehnte an der Krankheit. Erst in den 1950er Jahren gelang es, durch den flächendeckenden Einsatz von Antibiotika, die Tuberkulose zu heilen. Doch noch heute sterben, es ist ein Skandal, jährlich weit über eine Million Menschen an der behandelbaren Krankheit
Autorin: Nadja Huckfeldt