Der „Pulmotor“ und die Geschichte der Beatmungstechnik
Als sich das Coronavirus rasant verbreitete, wurde vielerorts ein Mangel an Beatmungsgeräten festgestellt. In kürzester Zeit sollten Tausende produziert werden. Allein die Lübecker Firma Dräger erhielt einen Auftrag über 10.000 Stück von der Bundesregierung. Johann Heinrich Dräger, Gründer des norddeutschen Unternehmens, war an der Wende zum 20. Jahrhundert zu einem Pionier der Beatmungstechnik geworden. Seine Erfindung, der „Pulmotor“, prägte über Jahre die Medizintechnik. Auf die entscheidende Idee hatte ihn eine Bierzapfanlage gebracht.
Die maschinelle Beatmung hat heute vor allem im Operationssaal und auf den Intensivstationen große Bedeutung. Aber auch aus der Notfallmedizin sind transportable Beatmungsgeräte nicht wegzudenken. Techniken der „Wiederbelebung“ beschäftigen Mediziner/innen schon lange. 1857 hatte der Arzt Henry Silvester (1828-1908) eine Methode vorgestellt, die weite Verbreitung fand. Der Patient wurde in Rückenlage positioniert und seine Arme kräftig kopfwärts in der Horizontalebene angehoben, wodurch es zum Ein- und Ausatmen kam. Um die Atemwege freizuhalten, wurde die Zunge mit einer Zange aus dem Mund herausgezogen und, falls nötig, unter Zuhilfenahme eines Taschentuchs in dieser Position fixiert. Eine Modifikation dieser Methode durch den Berliner Chirurgen Max Schüller wurde noch im Jahre 1952 in einem chirurgischen Lehrbuch erwähnt und als „bewährte Maßnahme“ empfohlen.
Solche manuellen Verfahren waren allerdings kräftezehrend für die Ersthelfer und insbesondere bei schweren, offenen Verletzungen des Brustkorbs nicht durchführbar. Mit dem wissenschaftlichen Fortschritt wuchs zudem die Erkenntnis, dass es notwendig war, den „Scheintoten“ Sauerstoff zu applizieren. Jedoch war die Herstellung des Gases zu schwierig und kostenintensiv. Auch geeignete Techniken zur Speicherung und zum Transport größerer Mengen waren noch nicht entwickelt. Um 1853 gelang es dem Briten George Barth erstmals, Lachgas in Metallzylindern zu komprimieren. Fünf Jahre später konnte diese Technik auch zur Speicherung von Sauerstoff genutzt werden, wodurch es möglich wurde, transportable Apparate für die Sauerstoffinhalation zu entwickeln. Die inhalative Anwendung direkt aus dem Druckgaszylinder war allerdings noch nicht realisierbar, da der Sauerstoff nicht in einem kontinuierlichen Gasstrom entnommen werden konnte. Deshalb wurde das Gas in einem an das Druckventil angeschlossenen Gummiballon zwischengespeichert und dem Patienten anschließend durch manuellen Druck auf den Ballon über einen Schlauch zugeführt
Auch die 1889 von Johann Heinrich Dräger und Carl Adolf Gerling gegründete Firma „Dräger und Gerling für technische Artikel und Maschinen“ bediente sich der Druckgastechnik. Das Einsatzgebiet waren hier allerdings zunächst Bierzapfanlagen unter Verwendung von komprimierter Kohlensäure. Da auch bei den Bierdruckautomaten die kontrollierte Entnahme des Gases Schwierigkeiten bereitete, entwickelte Heinrich Dräger in Zusammenarbeit mit seinem Sohn Bernhard das sogenannte Lubeca-Ventil als Druckminderer bis zum Patent. Mit diesem Ventil war es nun erstmals möglich, einer Hochdruckflasche genau regulierbar Gas zu entnehmen. Das Lubeca-Ventil war die Grundlage für den einige Jahre später entwickelten Pulmotor.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wandten sich Heinrich und Bernhard Dräger in enger Zusammenarbeit mit dem Lübecker Chirurgen Otto Roth (1863-1944) zunehmend der Medizintechnik zu. 1907 begann Heinrich Dräger, durch Beobachtung eines Wiederbelebungsversuches während einer Auslandsreise inspiriert, mit den Konstruktionsarbeiten zum ersten Prototyp des Pulmotors und meldete ihn noch im selben Jahr zum Patent an. Am 6. Oktober 1907 erteilte das Kaiserliche Patentamt des Deutschen Reiches der Firma, die inzwischen den Namen „Drägerwerk Heinrich & Bernhard Dräger“ trug, das Patent unter dem Titel „Vorrichtung zur Erzeugung künstlicher Atmung“.
Dieser Ur-Pulmotor erzeugte abwechselnd positiven und negativen Atemwegsdruck und wurde mit Drucksauerstoff betrieben. Über eine Saugdüse wurde der Sauerstoff mit Umgebungsluft vermischt in ein Rohrsystem geleitet, wodurch innerhalb des Rohrsystems ein Gasfluss erzeugt wurde. Vor der Düse entstand so ein Überdruck, hinter der Düse ein Unterdruck. Durch ein Ventilsystem sollte der Patient in der Einatemphase mit dem Überdruckbereich des Rohrsystems und während der Ausatemphase mit dem Unterdruckbereich verbunden werden. Die Steuerung des Beatmungsmusters erfolgte mit einem modifizierten Uhrwerk mit Kurvenscheibe.
Allerdings wies das Gerät noch Unzulänglichkeiten auf und war für die Praxis somit nicht geeignet. Zum einen wäre der Patient nur über einen einzelnen Beatmungsschlauch mit der Beatmungsmaschine verbunden gewesen, was eine erhebliche Rückatmung des ausgeatmeten Kohlenstoffdioxides bedeutet hätte. Zum anderen bereitete auch die Uhrwerk-Steuerung Schwierigkeiten, da das Atemminutenvolumen nicht an den Patienten angepasst wurde, sondern die Beatmung nach einem starren Zeitmuster verlief, wodurch es zu gefährlichen Drucksteigerungen in der Lunge kommen konnte.
Bernhard Dräger und der Ingenieur Hans Schröder nahmen sich dieser Problematik an und überarbeiteten die Konstruktion, um den Prototypen zur Serienreife zu bringen. In dem nun weiterentwickelten Modell wurde durch ein geändertes Schlauch- und Ventilsystem die Einatemluft von der Ausatemluft getrennt, sodass die Gefahr der Rückatmung von Kohlenstoffdioxid reduziert werden konnte. Die neue Steuermechanik bestand aus einem Blasebalg aus Ziegenleder und einem federbetriebenen Kurvengetriebe. Bei Erreichen eines definierten Drucks im Schlauchsystem des Beatmungsgeräts dehnte sich der Lederbalg aus und aktivierte so den Federmechanismus, der daraufhin zwischen Einatem- und Ausatemphase umschaltete. Ein zusätzlicher Bremsbalg sorgte für die mechanische Dämpfung bei der Umschaltung der Atemphasen.
Von 1909 bis 1911 wurde das transportable Beatmungsgerät zunächst vor allem Feuerwehren und Rettungseinrichtungen der Bergwerke zur Verfügung gestellt, um diese in Realsituationen auszuprobieren und kritisch zu bewerten. Die von den „Pulmotorstationen“ gemeldeten Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge wurden bei der Weiterentwicklung des Pulmotors berücksichtigt. Fünf Jahre nach Beginn der Serienfertigung waren weltweit bereits über 3.000 Geräte im Einsatz. Abnehmer waren zunächst die Rettungsstellen an den Küsten und in Gruben- und Hüttenbetrieben sowie später die öffentlichen Feuerwehren und große Industriebetriebe. Der Pulmotor fand dabei nicht nur in Deutschland Verbreitung, auch Großbritannien, Schweden, die USA und Kanada wurden bereits in den Anfangsjahren beliefert. Später hatte der Pulmotor sich nicht nur in den USA und über den gesamten europäischen Raum verbreitet, sondern erreichte auch Russland, Japan, Mexiko, Australien und China. Im Jahre 1946 wurde die Anzahl der im Einsatz befindlichen Geräte bereits auf 12.000 Stück geschätzt.
Obwohl der Pulmotor bereits in den ersten Jahren nach Markteinführung im Rettungswesen äußerst beliebt war und allein in Deutschland nach fünf Jahren etwa 300 erfolgreiche Rettungseinsätze unter Einsatz des Gerätes dokumentiert werden konnten, wurde das Prinzip der Überdruckbeatmung in medizinischen Fachkreisen scharf kritisiert. Insbesondere wurden Schädigungen von Herz und Lungengewebe befürchtet. Der sogenannte „Pulmotor-Streit“ gab Anlass für zahlreiche physiologische Studien, die zu kontroversen Ergebnissen führten. Zu Anfang der 1930er Jahre war der Forschungsstand, dass die Beatmung mit dem Pulmotor weder zu Lungenschäden noch zu Kreislaufdepression führe und manuellen Methoden weit überlegen sei. Doch über das beste Zusammenspiel von Druck und Sauerstoffgehalt bei der Beatmung in Abhängigkeit vom individuellen Krankheitsbild diskutieren Anästhesist/innen bis heute.
Während seiner siebzigjährigen Produktionsgeschichte wurde der Pulmotor laufend überarbeitet und in immer neuen Varianten präsentiert. Die letzte Weiterentwicklungsstufe des Pulmotors wurde Anfang der 1960er Jahre vorgestellt und bis Anfang der 1980er noch vertrieben. Das hier vorgestellte transportable Gerät zur instrumentellen respiratorischen Wiederbelebung lässt sich auf das Jahr 1942 datieren. Ob der Pulmotor seinerzeit für medizinische Notfälle oder zu Ausbildungszwecken eingesetzt wurde, ist nicht gesichert. Vor einigen Jahren wurde er aus dem Museum der Justizvollzugsanstalt Glasmoor übernommen. Seine Aufschrift „III. Revier“ deutet auf den Einsatz in der JVA hin. Im dortigen Krankenrevier wurde von den 1970er Jahren an bis in die 1990er Jahre hinein eine gefängniseigene Krankenpflegeschule geführt.
Autorin: Juliane Palmer
(Diese Objektgeschichte basiert auf einer studentischen Seminararbeit im Wahlfach GET II Sammeln, Forschen und Bewahren)