Typhus-Diagnose
75 Jahre Befreiung – als Seuchengeschichte?
Erinnerungen des belgischen Überlebenden Victor Baeyens an die Typhusepidemie im Stalag X B Sandbostel 1945
Typhus war im 19. Jahrhundert eine weit verbreitete Seuche. Um den Erreger zu identifizieren, wurden im frühen 20. Jahrhundert Methoden entwickelt: Mithilfe bestimmter Nährböden, wie sie in der Sammlung des Hamburger Hygiene-Instituts zu finden sind, konnten die Bakterien gezielt vermehrt und frühzeitig erkannt werden. Trotzdem ließen die Nationalsozialisten die Infektionskrankheit in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren in den Konzentrationslagern wüten. Die Opfer waren einkalkuliert.
Am 8. Mai 2020 jährt sich der Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus zum 75. Mal. Obwohl dies durchaus Anlass zum Feiern ist, sollte auch der Ermordeten und derer gedacht werden, die im Moment der Befreiung so geschwächt waren, dass sie nicht feiern konnten. Neben den psychischen Folgen der gerade erst überstandenen Haft im Konzentrationslager und dem Verlust der Angehörigen trug dazu auch die physische Erschöpfung der Überlebenden durch Hunger, Zwangsarbeit und Krankheiten wie Typhus und Fleckfieber bei.
Der belgische Widerstandskämpfer Victor Baeyens (*1920) war ab 1941 zuerst im Lager Breendonk und dann im KZ Neuengamme sowie in verschiedenen Hamburger Außenlagern inhaftiert. Nach der Räumung der Neuengammer Außenlager im April 1945 wurde er mit den anderen bis dahin überlebenden Häftlingen auf einen Todesmarsch ins Stammlager (kurz Stalag) X B Sandbostel, einem Kriegsgefangenen- und „Auffanglager“ in der Nähe von Bremervörde, geschickt. Im völlig überfüllten Lager wurden die Häftlinge sich selbst überlassen. Die Zustände dort zum Zeitpunkt der Befreiung beschrieb der britische Major H. Stoddard als „a Bels[e]n in minature“, also ein „kleines Bergen-Belsen“ (Ehresmann 2013: 20). Victor Baeyens erkrankte kurz vor der Befreiung Sandbostels durch die britischen Alliierten am 29. April 1945 an Typhus, wie er in seinen Erinnerungen schreibt:
„In der Zwischenzeit hat mich der Typhus erwischt. Ich liege mit hohem Fieber und bekomme auch noch Diarrhöe. Ich bekomme nicht mehr alles mit, was passiert, bis auf den Tag des 29. April 1945. Ein ohrenbetäubender Lärm ertönt, es wird gepfiffen, gejubelt und gerufen. Jeder, der sich bewegen kann, geht hinaus. Die [Alliierten] betreten das Lager. Endlich befreit! Die Angst vor einer möglichen Rückkehr der SS ist verschwunden. […] Mit Mühe hieve ich mich aufs Fensterbrett. Draußen sehe ich einen Panzer und Soldaten in Tarnanzügen. Und um sie herum tanzende und jubelnde Kriegsgefangene und politische Häftlinge. Etwas wie ein Schleier kommt vor meine Augen: Ich hatte gedacht, ich könne nicht mehr weinen. […]. Ich denke an die Freunde, mit denen ich in Breendonk und Neuengamme zusammen war und die nun nicht mehr leben.“ (Baeyens 2001: 124)
Typhus war eine weit verbreitete Seuche im Europa des 19. Jahrhunderts. Industrialisierung und Urbanisierung hatten zu engen und teils unhygienischen Lebensbedingungen in den Städten, besonders für die ärmeren Bevölkerungsschichten, geführt, was die Ausbreitung von Typhus über verschmutztes Grund- und Trinkwasser begünstigte. Der Name Typhus geht auf das griechische Wort für Hauch zurück. Im Englischen bedeutet das Wort Typhus Fleckfieber. In Deutschland ist damit die durch Salmonellen hervorgerufene Magen-Darm-Erkrankung gemeint. Dies trug dazu bei, dass die beiden Krankheiten häufig verwechselt wurden.
Unsere Exponate zeigen Möglichkeiten zur Typhusdiagnose: eine Flasche mit Endo-Agar (1906), mit dem im Hygiene-Institut Typhusbakterien herangezüchtet werden konnten, und Milchzuckertabletten (1931). Anders als andere Durchfallerreger konnte Salmonella thyphi Milchzucker nicht zersetzen. Die Probeflüssigkeit mit Milchzucker blieb klar und färbte sich rot. So konnte die Diagnose gestellt werden. Durch die Verbesserung der Trinkwasserqualität infolge der Cholera-Epidemie 1892 gingen auch die Typhusfälle in Hamburg nach der Jahrhundertwende zurück.
Wie die beiden Objekte zeigen, waren die Ursachen für Typhus schon im frühen 20. Jahrhundert gut bekannt. Umso deutlicher wird, dass die sich zunehmend verschlechternde medizinische Versorgung in den KZs eine bewusste Entscheidung der SS war. So gab es unter den Häftlingen Ärzte, die in den Krankenrevieren hätten assistieren können – viele taten dies trotzdem heimlich –, doch die SS entschied zunächst, die medizinische Versorgung Häftlingen mit wenig oder keiner medizinischen Ausbildung zu überlassen. Dies änderte sich im Laufe der Zeit, doch weiterhin führten die unhygienischen Haftbedingungen zu einer schnellen Ausbreitung von Epidemien.
Victor Baeyens hatte 1941/42 bereits eine Fleckfieberepidemie im Hamburger KZ Neuengamme überlebt. Hier zeigte sich die Gleichgültigkeit der SS-Ärzte, die die Häftlinge sich selbst überließen und den Tod von mehr als 1.000 Häftlingen billigend in Kauf nahmen, um deren Zahl zu verringern. Weil Fleckfieber sich, anders als Typhus, über Läuse in der Kleidung verbreitet, hätte eine einfache Entlausung geholfen, die Ausbreitung der Seuche einzudämmen. Das Lager wurde vom 28. Dezember 1941 bis März 1942 unter Quarantäne gestellt, was allerdings dem Schutz der SS und nicht der Häftlinge diente. An ihnen testete die SS im Auftrag des Hamburger Tropeninstituts Medikamente der IG Farben.
Obwohl Victor Baeyens sehr geschwächt war, überlebte er dank eines Solidaritätskomitees, das inhaftierte Widerstandskämpfer gegründet hatten. Die Erinnerung an die Epidemie in Neuengamme scheint so prägend für ihn gewesen zu sein, dass er über die Ankunft in Sandbostel schreibt:
„Auch gibt es hier Typhus. Verdammt, hätten wir es bloß gewagt, [...] zu fliehen. […] Nun schweben wir in der Gefahr, an Hunger und Typhus zugrunde zu gehen. Ich weiß, was eine [E]pidemie bedeutet, an sich und dann die Folgen, aufgrund [meiner Erfahrungen] […] in Neuengamme.“ (Ebda.: 118f)
Durch die Hilfe der britischen Alliierten und seiner ehemaligen Mithäftlinge überlebte Victor Baeyens und erholte sich nach der Befreiung relativ schnell. Viele befreite KZ-Häftlinge starben jedoch trotz der Bemühungen der Alliierten noch kurz nach der Befreiung. Baeyens musste zwei Wochen in Quarantäne in Bremen-Farge verbringen. Dennoch kehrte er bereits am 1. Juni 1945 zu seiner Familie nach Belgien zurück und begann noch im selben Jahr mit der Niederschrift seiner Memoiren.
Literatur:
Baeyens, Victor: Im Schatten des Galgens. Archiv Neuengamme, HB 34. Originalausgabe 1960, deutsche Übersetzung 2001.
Ehresmann, Andreas: Das Stalag X B Sandbostel. Geschichte und Nachgeschichte eines Kriegsgefangenenlagers. München 2015.
Ehresmann, Andreas: Das Stalag X B Sandbostel. Geschichte und Nachgeschichte eines Kriegsgefangenenlagers. Gedenkstätte Lager Sandbostel mit neuer Dauerausstellung eröffnet, in: Gedenkstättenrundbrief 171 vom 1. September 2013, S. 19-31. Online unter: https://www.gedenkstaettenforum.de/uploads/media/GedRund171_19-31.pdf , 05.05.2020.
Garbe, Detlef: Neuengamme im System der Konzentrationslager. Studien zur Ereignis- und Rezeptionsgeschichte. Berlin 2015.
Fritz, Sven: Die SS-Ärzte des KZ Neuengamme. Praktiken und Karriereverläufe, in: von Wrochem, Oliver (Hg.): Das KZ Neuengamme und seine Außenlager. Geschichte – Nachgeschichte – Erinnerung – Bildung. Berlin 2010, S. 181-198.
Howard-Jones, N.: Gelsenkirchen Typhoid Epidemic of 1901, Robert Koch, and the Dead Hand of Max von Pettenkofer. British Medical Journal 1973, S. 103-105. Online unter: https://www.gelsenkirchener-geschichten.de/files/typhoid_epidemic_gelsenkirchen_1901.pdf , brufdatum 05.05.2020.
Vögele, Jörg: Typhus und Typhusbekämpfung in Deutschland aus sozialhistorischer Sicht, in: Medizinhistorisches Journal, Bd. 33, H. 1 (1998), S. 57-79.
Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bonn 2016.
Autorin: Lisa Hellriegel