Hoffnung trotz Corona-Pandemie: Telemedizin eröffnet neue Wege in der Therapie
Seit April bieten Dr. Anneke Aden-Johannssen und Prof. Dr. Carsten Buhmann ihren Patientinnen und Patienten Therapiegespräche per Video an. Die Ärztlichen Leiter der Ambulanz für seelisch erkrankte Kinder und Jugendliche und der Neurologie des Ambulanzzentrums des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) sind zwei von mittlerweile über 70 Ärztinnen und Ärzte der UKE-Tochter, die Patienten auch telemedizinisch versorgen.
„Denk daran, 13.30 Uhr Videotermin“. Dr. Anneke Aden-Johannssen sitzt in ihrem Büro auf dem UKE-Campus und tippt diese Nachricht in ihr Handy. Per SMS erinnert sie ihren jugendlichen Patienten an die anstehende Therapie. Der 16-Jährige antwortet prompt. „Oh, ich habe die Zeit verpasst, kann ich erst duschen gehen?“ „Ok, ich melde mich dann um 14 Uhr“, antwortet ihm die Kinder- und Jugendpsychiaterin.
„Genau hier zeigt sich ein Vorteil der Telemedizin“, erläutert Dr. Aden-Johannssen, „in Zeiten vor Corona wäre mein Patient wahrscheinlich gar nicht mehr zur Therapie erschienen. Jetzt kann ich ihn vorab daran erinnern, mich flexibel auf seine individuelle Situation einstellen.“ Mit einer weiteren ärztlichen Kollegin und drei Therapeutinnen betreut Dr. Aden-Johannssen rund 220 Kinder und Jugendliche mit seelischen Erkrankungen, darunter viele mit Suchtproblemen. Die jungen Patienten besäßen keine feste Tagesstruktur, seien antriebslos, hätten mit Stimmungs- und Motivationsschwankungen, Schlafstörungen oder Ängsten zu kämpfen. Umso mehr seien sie während der Pandemie auf eine kontinuierliche und verlässliche Therapie angewiesen.
Als die Kassenärztliche Vereinigung bisherige Regelungen zur Telemedizin lockerte, reagierten die Verantwortlichen des Ambulanzzentrums um Polina Sychla, Kaufmännische Fachbereichs- und Projektleiterin, schnell. Im Laufe von 14 Tagen statteten sie mit Hilfe der IT bis Anfang April zunächst 40 approbierte Ärzte und Therapeuten mit Laptops mit sicherer Netzwerkumgebung aus, schulten sie im Umgang mit einer speziellen, zertifizierten Software für Videosprechstunden. Seit Ende des Monats können alle Ärzte sämtlicher Fachbereiche bis auf Labor, Radiologie und Ambulantes Operationszentrum, in denen keine Videotherapie möglich ist, diese Möglichkeit nutzen.
Jetzt, da das Ambulanzzentrum seinen Patientinnen und Patienten eine bestmögliche medizinische Versorgung bieten, jedoch gleichzeitig physische Kontakte reduzieren muss, ist Telemedizin vor allem für chronisch oder psychisch Erkrankte, Patienten mit Immunschwäche und jene, die nicht aus Hamburg stammen, eine willkommene Alternative. Die Patienten können von zu Hause aus über den eigenen Computer, das Tablet oder Smartphone an der Videosprechstunde teilnehmen. Nach erfolgreicher Prüfung der datenschutzrechtlichen und technischen Voraussetzungen erhalten sie für ihre Teilnahme einen Link per E-Mail oder SMS. Bei Bedarf können Angehörige oder Dolmetscher dazugeschaltet werden.
Bis dato haben Dr. Aden-Johannssen und ihre Kollegin insgesamt nahezu 100 Videosprechstunden durchgeführt, 20 durchschnittlich pro Woche. Mittlerweile kämen wieder mehr Patienten ins UKE, so dass pro Tag etwa sieben Patienten ihren Termin per Video, vier ein persönliches Gespräch wahrnähmen. Bei letzterem tragen die Psychiaterinnen und Therapeutinnen derzeit wie alle Ärzte im Patientenkontakt einen Mund-Nasen-Schutz, halten den gebotenen Abstand, Händehygiene sowie Nies- und Hustenetikette ein. Die Hand zur Begrüßung geben sie nicht.
Telemedizin eignet sich nicht nur für gesprächsbasierte Therapien, auch körperliche Befunde sind möglich. Durchschnittlich zwölf Patientinnen und Patienten pro Woche nimmt Prof. Dr. Carsten Buhmann derzeit über Kamera in Augenschein. Der Neurologe behandelt gemeinsam mit drei Kolleginnen überwiegend Seniorinnen und Senioren mit Nervenerkrankungen, darunter viele mit Morbus Parkinson. „Für diese Patienten ist es beschwerlich, zu uns zu kommen; sie sind in ihrer Mobilität eingeschränkt, riskieren verstärkte Symptome unter Belastung und benötigen in der Regel Begleitung“, erläutert Prof. Buhmann. Seit Jahren habe er daher auf die Ausweitung der telemedizinischen Möglichkeiten gehofft.
Das häusliche Umfeld gibt zusätzlich Aufschluss für die Diagnostik
Die für die Diagnostik zentrale Anamnese, die Befragung von Patienten mit Bewegungsstörungen und deren Familienangehörigen, sei sehr gut per Video zu erheben, orientierend auch eine Untersuchung. Zum Beispiel könne Prof. Buhmann seine Patienten beim Auf- und Abgehen im Raum beobachten oder sie feinmotorische Tests ausführen lassen, um ihre Beweglichkeit einzuschätzen. „Diese Art der Untersuchung bringt viele Vorteile gegenüber Telefonaten und weitere Erkenntnisse gegenüber Konsultationen im UKE mit sich“, erklärt Prof. Buhmann, „über die Kamera sehe ich, ob Patienten zittern, steif oder überbeweglich sind – und zwar unmittelbar in ihrem häuslichen Umfeld. So kann ich zugleich mögliche Gründe für berichtete Gangblockaden ausmachen wie zum Beispiel zu eng stehende Möbel oder visuell ungünstige Teppichmuster.“ Auch für Dr. Aden-Johannnssen und ihre Kollegin schließe die Telemedizin nicht nur eine Lücke in Krisenzeiten. „Videogespräche leisten mehr“, betont Dr. Aden-Johannssen, „sie geben mir die Möglichkeit, regelmäßiger und unkomplizierter Kontakt zu meinen Patienten aufzunehmen, z. B. wenn Medikamente umgestellt werden müssen oder wenn sie sich wegen ihrer Traumata zu Hause sicherer fühlen.“ Auch könne sie sich ein besseres Bild der Gesamtsituation machen, dabei familiäre Aspekte besser mit einbeziehen. In beiden Fachbereichen gebe die Telemedizin weitere Anhaltspunkte für die Diagnostik und hebe schließlich die Qualität der Therapie.
Inzwischen ist Dr. Aden-Johannssens 14-Uhr-Patient im virtuellen Wartezimmer angekommen. Ein Klick, etwas Geruckel an der Kamera, richtiges Einstellen der Kopfhörer – und im nächsten Moment schauen sich Therapeutin und Patient direkt in die Augen. „In dieser intimen Konstellation kommen wir viel schneller auf den Punkt“, erzählt Dr. Aden-Johannssen. Kein langes Ankommen. Kein abschweifender Blick. Heute hat ihr Patient Positives zu vermelden: die häusliche Situation habe sich entspannt. Er dürfe inzwischen länger als zwei Stunden pro Tag im W-LAN verbringen. „Das Vertrauensverhältnis zur Mutter ist während der häuslichen Isolation gewachsen“, so Dr. Aden-Johannssens Fazit.
Voraussetzung für funktionierende Telemedizin sei neben einem stabilen W-LAN und einem gewissen technischen Verständnis ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Und natürlich gebe es auch Skeptiker, so Dr. Aden-Johannnssen und Prof. Buhmann. Diese empfänden die Situation vor der Kamera als unpersönlich, hätten Sorge, dass Gespräche aufgezeichnet würden. Wichtig sei daher, dass Ärzte und Therapeuten vor ihrer ersten Videosprechstunde bereits eine Beziehung zum Patienten aufgebaut hätten. Für Erstkontakte eigne sich die Telemedizin daher nicht – sehr wohl aber als Ergänzung zur persönlichen Sprechstunde. Und zwar auch über die Corona-Pandemie hinaus.
Text: Kathrin Thomsen, Unternehmenskommunikation
Fotos: Axel Kirchhof