Glück auf Umwegen
Sandra Fink kommt 1982 mit einem schweren Herzfehler zur Welt – ihre Zwillingsschwester Doreen ist kerngesund. Erst mit sechs Jahren können Ärzte Sandras Herz teilweise reparieren. 25 Jahre lang geht alles gut. Doch als sie selbst ein Kind erwartet, beginnt für die Familie eine dramatische Odyssee zwischen Leben und Tod.
Sie haben dasselbe Grübchen auf der rechten Wange, dieselben strahlenden Augen und viel Fröhlichkeit in sich – Sandra und Doreen sind unzertrennlich, schon immer. Die tiefe Zuneigung, die sie füreinander empfinden, ist auch heute spürbar. Insbesondere, wenn Sandras angeborener Herzfehler zur Sprache kommt: Fallot-Tetralogie – eine Kombination gleich mehrerer Fehlbildungen des Herzens. „Obwohl ich körperlich immer die Langsamere war, ist mir Doreen nie von der Seite gewichen“, sagt Sandra lächelnd. „Wir wohnten mit unseren Eltern damals im vierten Stock. Wenn ich aus der Puste war, setzte sich meine Schwester mit mir auf den Treppenabsatz und wartete.“ Doch irgendwann läuft Sandra immer häufiger blau an, weil ihr Herz den Körper nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Mit sechs Jahren wird sie in der Uniklinik Rostock am offenen Herzen operiert und ihre defekte Kammerscheidewand verschlossen. „Obwohl die Ärzte meine Überlebenschancen damals als sehr gering einschätzten, erholte ich mich wieder und konnte ein fast normales Leben führen“, erzählt die 36-Jährige.
Dass sie nicht ganz gesund ist, hat sie immer gewusst. Auch deshalb absolviert sie alle notwendigen Untersuchungen, als sie und ihr Mann sich ein Kind wünschen. Im Oktober 2014 wird sie schwanger. „Die ersten 20 Wochen verliefen wie im Bilderbuch. Dann fing ich an, Wasser in den Beinen und Füßen einzulagern. Das tat höllisch weh und schnürte mir zunehmend die Luft ab.“ Sandra kommt zur Untersuchung ins Krankenhaus, wo ein Herzultraschall die Diagnose liefert: Ihre rechte Herzseite ist infolge der Überbelastung stark vergrößert und ihr Herz für ein Fortführen der Schwangerschaft viel zu schwach. Mit Blaulicht wird die junge Frau ins Universitäre Herzzentrum nach Hamburg gebracht.
Sandra schließt die Augen und schüttelt nach kurzem Überlegen energisch den Kopf. „Mein Kind in der 26. Schwangerschaftswoche zu holen, war für mich keine Option“, sagt sie. „Ich spürte, dass ich es schaffen würde und wusste, dass ich im Herzzentrum gut aufgehoben war.“ Und tatsächlich ist das Thema vorzeitiger Schwangerschaftsabbruch im UKE schnell vom Tisch. Sandra kommt auf die Herzstation, erhält Sauerstoff und entwässernde Medikamente, sodass sie wenige Tage später sogar wieder nach Hause darf. Sie freut sich darauf, endlich das Kinderzimmer einzurichten und ist voller Tatendrang. Doch ihr Herz macht ihr einen Strich durch die Rechnung. „Wieder lagerte ich Wasser ein, bekam schlimme Atemnot. Schlafen konnte ich mittlerweile nur noch im Sitzen, weil mir sonst komplett die Luft wegblieb.“ Sandra ist in der 30. Schwangerschaftswoche, als sie bei einer Routineuntersuchung ihres Gynäkologen den nächsten Tiefschlag einstecken muss. „Es hieß, mein Gebärmutterhals sei stark verkürzt und das Baby könne jederzeit kommen.“ Wieder geht es Richtung UKE – dieses Mal auf die Geburtsstation.
13 Tage später kommt die kleine Anni gesund und acht Wochen zu früh per Kaiserschnitt zur Welt. Und das Herz ihrer Mutter wird immer schwächer. Als sie aus der Narkose erwacht, liegt Sandra auf der Intensivstation. „Am schlimmsten war für mich, mein Kind nicht sehen zu können“, sagt sie leise und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Erst zwei Tage nach der Geburt darf sie zur Neugeborenen-Intensivstation, wo sie ihre kleine Tochter zum ersten Mal in die Arme schließt. Sandra ist überglücklich, unbeschwert genießen kann sie die gemeinsamen Momente jedoch nicht. Ihre Herzfunktion hat sich weiter verschlechtert. Erst einen Monat später wird sie mit Sauerstoffgerät entlassen.
Endlich zu Hause, zusammen das Glück auskosten – so hatte es sich Sandra vorgestellt. Dann holt sie die Realität ein. Ihre Atemnot verschlimmert sich im Stundentakt. Täglich muss sie die Sauerstoffzugabe erhöhen und hat bereits nach zwei Wochen das Maximum erreicht. Sie muss dringend zurück ins Herzzentrum. Während ihr Mann zu Hause beim Baby bleiben soll, fährt ihre Zwillingsschwester das Auto vor. „Sandra zwängte sich irgendwie mit dem tragbaren Sauerstoffgerät auf den Beifahrersitz – und ich war kaum losgefahren, da saß sie schon bewusstlos mit blauen Lippen neben mir“, erzählt Doreen mit zitternder Stimme. Es ist ein Schock für die ganze Familie. Ein Rettungswagen bringt Sandra ins UKE – ihr Zustand ist kritisch und ihre Sauerstoffsättigung trotz Atemhilfe so schlecht, dass sie am liebsten am offenen Fenster liegt, um nicht das Gefühl zu haben, zu ersticken. Zum Glück gelingt es den Herzspezialisten im UKE, die junge Frau zu stabilisieren und ihre defekte rechte Herzklappe minimalinvasiv mit einem Kathetereingriff zu ersetzen. Doch das Schicksal lässt Sandra und ihre Familie noch etwas zappeln. Trotz OP geht es ihr nicht gut – und das Wort Transplantation fällt immer häufiger. Es dauert fast drei Monate, bis Sandras Herz anfängt, sich zu erholen und langsam kleiner wird.
Heute hat die junge Frau alles, was sie zum Glücklichsein braucht. Ihre kleine Tochter auf dem Schoß erzählt sie, wie gern sie zusammen Fahrradfahren oder draußen im Garten spielen. Ihre Zwillingsschwester Doreen wohnt mit Mann und Kindern direkt nebenan, und auch ihre Eltern sind im selben Dorf. „Ich freue mich, meine ganze Familie um mich herum zu haben, und bin unendlich dankbar, dass unsere Anni mit ihrer Mama aufwachsen darf!“