Ganz oder gar nicht

Mal überglücklich und voller Tatendrang, mal in sich gekehrt und zutiefst verzweifelt – Elias Weber* leidet an der Bipolar-Erkrankung. Jahrelang schwanken seine Gefühle zwischen zwei Extremen. Mittlerweile hat der 37-Jährige gelernt, damit umzugehen. Er studiert wieder und gibt seine Erfahrungen in Seminaren weiter.

*Name geändert

Eine Nacht und einen halben Tag hat Elias durchgetanzt, mit Freunden gelacht und verrückte Pläne geschmiedet. Jetzt steht er regungslos in seiner Küche vor dem eingeräumten Geschirrspüler. Er muss nur noch den Startknopf drücken, mehr nicht. Minutenlang starrt er auf das Gerät. Doch es geht einfach nicht. Die Euphorie vom Vortag ist wie weggeblasen und Elias wie gelähmt. „Du bist zu nichts zu gebrauchen, nicht mal einen Geschirrspüler kannst du anstellen“, geißelt er sich selbst und legt sich wieder hin. Er will nicht mehr aufstehen, nie wieder. Niemanden sehen, am liebsten einfach weg sein und keinem zur Last fallen. Elias’ Gedanken rauschen wie durch einen Tunnel, immer tiefer hinab in die totale Finsternis.

Natur als Sinnstifter
Natur als Sinnstifter:
Zweifelt Elias am Leben, stärken ihn Gedanken an Blumenwiesen

Ganz oder gar nicht. So tickt Elias, immer schon. „Bereits in der Grundschule war ich entweder unruhig und kaum zu bremsen oder ich stand in einer Ecke und träumte vor mich hin“, erinnert er sich. Die Ärzte, die Elias’ Eltern mit ihm aufsuchen, verbuchen sein Verhalten mal als Hyperaktivitätssyndrom, mal als Tagträumer-Krankheit. Den wirklichen Grund findet niemand. Erst als Elias in die Pubertät kommt, empfindet er seine Stimmungstiefs zunehmend als quälend. „Ich hatte schlechte Phasen, in denen ich total antriebslos war“, berichtet er. „Ständig hörte ich mich selbst und die anderen sagen: Nun mach doch, überwinde dich, erledige einfach deine Hausaufgaben.“ Elias setzt sich extrem unter Druck, versucht mit aller Kraft, gegen sein Inneres anzukämpfen, bis sein Körper eines Tages rebelliert. „Ich bekam so heftige Magenkrämpfe, dass ich mich auf dem Boden krümmte“, erzählt der Student. Er kommt ins Krankenhaus und wird dort auf Herz und Nieren untersucht. Nur die Seele wird leider ausgelassen und der Jugendliche mit der Empfehlung nach Hause geschickt, künftig auf Müsli und Bananen zu verzichten.

So geht Elias’ emotionale Achterbahnfahrt unbeirrt weiter – bis ihn die Krankheit endgültig einholt. „Ich war damals Anfang 20 und vieles lief schief“, erinnert er sich. Zuerst trennt sich seine damalige Freundin von ihm, dann erkranken drei seiner Freunde schwer und verlieren kurz darauf ihr Leben. „Ich war wie betäubt, verlor jegliches Gefühl für Raum und Zeit und spürte nichts mehr, nicht einmal Trauer“, berichtet Elias. Er liegt nur noch im Bett, schläft kaum, isst nichts und magert auf 56 Kilo ab. Familie und Freunde stehen der Situation hilflos gegenüber. „Sie hätten mich gern unterstützt, doch ich empfand alle Hilfsangebote als unerträglich. Es fühlte sich an, als führte man mir damit mein eigenes Unvermögen vor Augen“, erklärt Elias. Eines Morgens bricht er dann im Badezimmer zusammen und sieht sich – bei vollem Bewusstsein – von oben aus der Vogelperspektive am Boden liegen. „In diesem Moment spürte ich, dass ich dabei war, mich vollends zu verlieren, und professionelle Hilfe brauche.“

An der Kunsttherapie im UKE nimmt Elias seit  Jahren teil, weil sie seiner Seele guttut
An der Kunsttherapie im UKE
nimmt Elias seit Jahren teil, weil sie seiner Seele guttut
Kunsttherapeutisches Malen hilft Elias sich auszudrücken
Kunsttherapeutisches Malen hilft Elias sich auszudrücken

Zurück ans Licht

Psychotherapeutische Hilfe in einer Großstadt wie Hamburg zu finden, sollte kein Problem sein, denkt Elias damals – und irrt sich gewaltig. „Ich habe viel herumtelefoniert, bis ich endlich irgendwo einen Termin erhielt. Doch die erste Therapeutin gab mir schon nach kurzer Zeit mit der Begründung, meine Geschichte sei ihr zu anstrengend, den Laufpass. Der Nächste schlief regelmäßig während unserer Sitzungen ein und auf den Anruf der dritten Praxis warte ich bis heute“, schmunzelt der 37-Jährige trotz aller Tragik. Er sucht einen Psychiater auf, der seine Erkrankung auf Anhieb richtig erkennt: Bipolar-II-Störung mit schwach ausgeprägten sogenannten Hypomanien und langen, schweren Depressionen. „Tatsächlich erlebte ich stets nur sehr kurze Hochphasen von maximal zwei Wochen, in denen ich voller Energie steckte und glaubte, alles erreichen zu können. Meine längste depressive Episode dauerte dagegen sechs Monate.“

Die Diagnose hat für Elias etwas Befreiendes. „Mein Zustand hatte plötzlich einen Namen, sodass ich daran arbeiten konnte“, sagt er. Sein Arzt vermittelt ihn zunächst in das Hilfsprogramm HopeS, ein Projekt für Studierende mit psychischen Erkrankungen von Uni Hamburg und UKE. Doch erst ein teilstationärer Aufenthalt in der Tagesklinik für Psychosen und bipolare Störungen im UKE bringt den jungen Mann zurück in die Spur. „Hier lernte ich wieder einen geregelten Tagesablauf mit festen Strukturen. Gemeinsam zu kochen, zu malen, Sport zu treiben und Menschen in derselben Lage zu begegnen, hat mir sehr gut getan.“ Während seines sechsmonatigen Aufenthalts trainiert Elias auch Methoden, wie er seine Krankheit austricksen, ihre Symptome abschwächen kann. Insbesondere hilft ihm der Gedanke, dass Bipolarität klare Strukturen hat, in denen sich gute und schlechte Phasen abwechseln. „Die Krankheit schien jetzt kontrollierbar, das hat mich stark gemacht.“

Elias offenbart sein Gesicht und seinen Namen nicht aus Angst vor Stigmatisierung
Elias erzählt seine Geschichte,
macht sich aber nicht erkenntlich aus Angst vor Stigmatisierung

Heute weiß Elias, wie es sich anfühlt, ganz er selbst zu sein. Seine letzte Depression liegt bereits zwei Jahre zurück. Sein Wunsch für die Zukunft? „Weniger Vorurteile gegenüber psychisch Erkrankten, insbesondere auch im Beruf“, sagt er. Durch Aufklärungsarbeit an Schulen, Universitäten, Krankenhäusern und bei der Polizei mit dem Verein „Irre menschlich Hamburg“ möchte er dazu beitragen und hofft auch für seine Zukunft auf eine faire Chance ohne Stigmatisierungen.

  • Gefangen zwischen zwei Polen
  • Gefangen zwischen zwei Polen

    Etwa ein bis drei Prozent der Bevölkerung leiden an einer bipolaren Störung. Die Erkrankung geht mit extremen Stimmungsschwankungen einher. Häufig ist es ein langer Weg bis zur richtigen Diagnose. In der Sozialpsychiatrischen Spezialambulanz des UKE finden Betroffene individuelle psychotherapeutische Begleitung.


    Im UKE werden jährlich mehr als 500 Patienten mit bipolarer Störung behandelt, die meisten von ihnen im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter. Rund 90 Prozent leiden an der Bipolar-I-Störung, bei der sich manische und depressive Phasen in etwa die Waage halten. Bei Bipolar-II fallen die manischen Episoden milder aus.

    „Sieben von zehn Patienten kommen in der Depression zu uns. Das liegt daran, dass sie sich in der Manie als völlig gesund empfinden“, erläutert Prof. Dr. Jürgen Gallinat, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im UKE. „Für uns besteht die Herausforderung darin, die Bipolarität hinter der depressiven Episode aufzuspüren.“ Mangels klinischer Diagnosemöglichkeiten geschieht dies in ausführlichen psychotherapeutischen Gesprächen, in die idealerweise auch Familie und Freunde einbezogen werden.

    Worin unterscheiden sich Manie und Depression von gewöhnlichen Stimmungsschwankungen? „Sie sind deutlich stärker ausgeprägt und meist nicht an ein konkretes Ereignis geknüpft“, erklärt Prof. Dr. Martin Lambert, Leiter des Arbeitsbereichs Psychosen im UKE. Typische Merkmale der Manie sind Überaktivität, innere Unruhe, Schlaflosigkeit sowie hemmungsloses und leichtsinniges Verhalten. Der Switch in die Depression passiert plötzlich und ohne Vorwarnung.

    Behandelt wird die bipolare Störung meist mit einer Kombination von Medikamenten und Psychotherapie, die Häufigkeit und Ausprägung der Phasen eindämmen soll. Informieren können sich Betroffene und Angehörige im Rahmen der Sprechstunde für Bipolar-Erkrankte im UKE, mittwochs von 13 bis 16 Uhr. Telefonische Anmeldung unter 7410-53236.



    Doppelte Expertise:
    Prof: Dr. Gallinat (l.), Leiter der Psychiatrie, und Prof. Lambert, Leiter des Arbeitsbereichs Psychosen

    Doppelte Expertise: Prof: Dr. Gallinat (l.), Leiter der Psychiatrie, und Prof. Lambert, Leiter des Arbeitsbereichs Psychosen

    Doppelte Expertise: Prof: Dr. Gallinat (l.), Leiter der Psychiatrie, und Prof. Lambert, Leiter des Arbeitsbereichs Psychosen



Text: Nicole Sénégas-Wulf
Fotos: Ronald Frommann