Endlich eine Nasenlänge voraus!
Als Kind leidet Simon Arndt ständig unter starken Schmerzen und Fieberschüben. Seine Eltern laufen mit ihm von Arzt zu Arzt – doch niemand kann helfen. Erst mit 16 Jahren erhält der heute 28-Jährige im UKE die seltene Diagnose Morbus Fabry. Auch die kleine Amelie gehört zu den „Seltenen“ und ist im Martin Zeitz Centrum für Seltene Erkrankungen in Behandlung.
Wenn Burkhard Arndt seinen Sohn auf dem Rennrad locker an sich vorbeiziehen sieht, kann er es bis heute kaum fassen. „Dass Simon überhaupt eines Tages Sport treiben könnte, war noch vor wenigen Jahren völlig undenkbar“, erzählt sein Vater und erinnert damit an Zeiten, in denen Simon vor Schmerzen nicht mal die 300 Meter bis zum Schulbus schaffte. Seit er im UKE behandelt wird, steigen Vater und Sohn regelmäßig aufs Rad und trainieren auf Tempo. Bereits fünfmal sind sie die Hamburger Cyclassics mitgefahren – und mit jedem Rennen konnte Simon seine persönliche Bestzeit steigern.
Diagnose? Unklar
Bewegt hat sich Simon eigentlich immer gern – bis er acht Jahre alt ist. „Damals fing er an, sich bei längeren Spaziergängen immer öfter über starke Schmerzen in den Füßen zu beklagen“, erinnert sich seine Mutter. Sie gehen zum Kinderarzt, der sie an einen Kinderrheumatologen verweist. Nach verschiedenen Untersuchungen steht dessen Diagnose fest: Simon leide unter Rheuma und benötige entsprechende Medikamente, heißt es. Endlich etwas gegen die Schmerzen! „Ich war richtig froh und erleichtert“, erinnert sich Simon. Umso enttäuschter ist er, als er bemerkt, dass die Medikamente gar nicht wirken – und es ihm im Gegenteil immer schlechter geht. Mit zwölf Jahren hat er regelmäßige Krankheitsschübe, die mit furchtbaren Schmerzen vor allem in Händen und Füßen, mit Fieber und extremer Abgeschlagenheit einhergehen. „Ich konnte nur im Bett liegen und darauf warten, dass es vorübergeht“, berichtet Simon. Seine Eltern stehen der Situation völlig hilflos gegenüber. „Es war schrecklich mitansehen zu müssen, wie sehr er litt, ohne wirklich etwas tun zu können.“ Nicht einmal das vom Arzt verschriebene Morphin bringt Linderung. In seiner Verzweiflung beginnt Simons Vater, selbst zu recherchieren. Er stößt im Internet auf Morbus Fabry – eine seltene lysosomale Stoffwechselstörung, bei der dem Körper ein wichtiges Enzym fehlt, was zu schweren Organschäden führen kann. „Wir waren erleichtert und erschrocken zugleich“, erinnert sich Burkhard Arndt. „Erleichtert, weil wir es nun angehen konnten. Und erschrocken, weil unser Sohn ernsthaft krank war.“
Endlich Gewissheit
Im Martin Zeitz Centrum des UKE, das auf Diagnose und Therapie seltener Erkrankungen spezialisiert ist (siehe Seite 17), haben Betroffene die Möglichkeit, sich im Verdachtsfall umfassend untersuchen und beraten zu lassen. Auch Simon unterzieht sich im Alter von 16 Jahren einem Gentest, der die Diagnose Morbus Fabry bestätigt. Da die Krankheit erblich ist, suchen die UKE-Experten in Simons näherem Umfeld nach Betroffenen – und entdecken den Gendefekt tatsächlich auch bei seiner Mutter sowie vier weiteren Familienmitgliedern. Direkt nach dem Befund startet Simon im UKE mit einer Enzymersatztherapie und erhält alle zwei Wochen über eine Infusion das ihm fehlende Enzym. Es sorgt dafür, Stoffwechselprodukte aus dem Körper abzutransportieren, damit sie sich nicht länger an Organen wie Herz oder Nieren ablagern können.
Gezielt helfen
Auch die siebenjährige Amelie ist heute zur Behandlung in der Kinderklinik. Vergnügt nascht sie von ihrem selbstgebackenen Zitronenkuchen, während eine durchsichtige Flüssigkeit Tropfen für Tropfen durch einen dünnen Schlauch in ihren Körper fließt. Amelie kennt das schon. Seit sie zwei Jahre alt ist, kommt sie in die Kinderklinik des UKE zur Enzymersatztherapie. Sie leidet an Morbus Pompe, einer anderen seltenen lysosomalen Speicherkrankheit, die vor allem die Muskeln angreift. „Wir bemerkten schon kurz nach der Geburt, dass etwas nicht stimmt“, erinnert sich Mutter Claudia. Als Baby kann Amelie ihren Kopf lange Zeit nicht selbstständig halten. Ihre Muskelspannung ist zu schlaff, um in den Stütz zu kommen oder gar zu krabbeln. Mit vier Monaten gehen ihre Eltern mit ihr zur Physiotherapie – und erhalten dort den entscheidenden Hinweis. „Man empfahl uns, eine Blutuntersuchung durchzuführen. Zum Glück! Danach wussten wir, was unserer Tochter fehlt, und konnten ihr helfen“, so Amelies Mutter. Dass sie erst mit zweieinhalb Jahren und sehr viel Übung laufen lernte, ist der Siebenjährigen heute kaum noch anzumerken. „Natürlich geht sie etwas langsamer und Treppensteigen funktioniert fast gar nicht. Aber sie bewegt sich gern und versucht mitzuhalten.“ Amelies Eltern sind glücklich, dass die Erkrankung ihrer Tochter so früh erkannt wurde und die Enzymersatztherapie Schlimmeres verhindert hat.
Ein langer Weg
Bei Simon dauert es fast zehn Jahre, bis die Ursache für sein Leiden endlich gefunden wird. Es sind Jahre, in denen er sich manchmal vom Leben abgehängt fühlt. Etwa, wenn seine Mitschüler im Sportunterricht Brennball spielen, während er von der Bank aus zuschauen muss, oder nicht mit auf Klassenreise fahren kann, weil er plötzlich einen Krankheitsschub hat. Als Jugendlicher flüchtet er sich oft in die virtuelle Welt von Computerspielen, in denen plötzlich alles möglich scheint. Erst anderthalb Jahre nach Beginn der Enzymersatztherapie gelingt es den Ärzten, Simons Schmerzen dauerhaft auszuschalten – ein Wendepunkt im Leben des damals 18-Jährigen. Auf einmal ist er voller Tatendrang, beginnt eine Ausbildung zum Zahntechniker, die er vor vier Jahren abgeschlossen hat, und tauscht seinen Computer gegen ein Rennrad. „Mein Vater war ganz schön skeptisch und dachte, dass ich wahrscheinlich nicht weit damit kommen würde“, schmunzelt Simon. Heute ist er ihm längst eine Nasenlänge voraus!