Klar zur Wende
Studium, Berufsstart, Zukunft gestalten – und dann Krebs. Wie erobert man sich nach Chemo, OP und Bestrahlung sein Leben zurück? Anna Belle Jöns und Eva Wenig ist es gelungen. Den Impuls lieferte ein besonderer Segeltörn.
Nervös blättert Anna Belle Jöns durch die Zeitschriften im Wartezimmer, es ist der erste Termin bei ihrem Onkologen in Hamburg. Die 36-Jährige liest einen Artikel über die „Segelrebellen“, eine Initiative, die krebskranken jungen Erwachsenen die Möglichkeit bietet, auf hoher See Abstand zur Krankheit und zum Leben als Patient zu gewinnen, Mut für die Zukunft zu schöpfen. „Gutes Thema, aber ich habe es überhaupt nicht mit mir in Verbindung gebracht.“ Drei Jahre ist das her.
Da hatte Anna sich noch nicht von dem Schlag wenige Monate zuvor erholt, als sie ihre langjährige Tätigkeit im Kulturbereich verlor. Die vernichtende Diagnose des Onkologen kommt obendrauf: Brustkrebs mit Beteiligung der Lymphknoten, vermutlich Metastasen in der Lunge. Chance auf Heilung? Gering, heißt es zunächst. Von nun an teilt eine tiefe Bruchlinie ihr Leben – in die Zeit vor und die mit dem Krebs. Neun Monate später erinnert sich Anna an den „Segelrebellen“-Artikel. Chemotherapie und große Brust-OP liegen hinter ihr; in der Psychotherapie hat sie sich Schritt für Schritt aus ihrer seelischen Krise gearbeitet. Die Strahlentherapie liegt kaum drei Wochen zurück, als sie in Breege auf Rügen für zehn Tage an Bord geht: Kattegat, Kopenhagen und retour, zusammen mit fünf Mitseglern und Skipper.
„Wenn ich Fotos von damals anschaue, sehe ich mich abgemagert, kraftlos, mit drei Millimeter kurzem Haar“, erzählt sie. Und doch mitten im Geschehen: auf dem Achterdeck, Hand an der Vorleine, auf der hohen Bordkante mit den anderen, wenn das Schiff krängt.
Alle an Bord teilen ein ähnliches Schicksal. Sie sind jung, haben oder hatten Krebs, in allen Formen und Schweregraden, befinden sich in unterschiedlichen Stadien der Genesung – und sie haben es gründlich satt, nur noch Patient zu sein. Sie wollen weder in Watte gepackt werden noch in ewig besorgte Gesichter schauen. Gemeinsam überstehen sie die ersten Oktoberstürme im Kattegat, die die See aufwühlen und Teilen der Crew den Magen umdrehen. „In einer sehr stürmischen Nacht bin ich an meine Grenzen gekommen“, erzählt Anna. „Aber als am nächsten Morgen alles wieder ruhig war und der Himmel blank, da war es, als hätte der Sturm auch meine Sorgen weggefegt.“
Eva Wenig hat von den „Segelrebellen“ durch Anna erfahren. Beide kennen sich von den regelmäßigen Treffen im Rahmen des Nachsorgeprogramms AYA (Adolescents and Young Adults), das vom UKE für Krebspatienten zwischen 18 und 39 Jahren angeboten wird. „Du kannst dich mit Leuten austauschen, die das gleiche Problem haben oder hatten. Das hilft sehr. Vorher fühlte ich mich entwurzelt“, erzählt die 31-Jährige. Als bei ihr vor vier Jahren das Hodgkin-Lymphom, ein bösartiger Krebs des Lymphsystems, diagnostiziert wurde, sei sie beinahe erleichtert gewesen. „Endlich kannte ich den Grund für meine jahrelange Erschöpfung – und es gab eine Lösung.“ Nach der Chemotherapie würde alles wieder gut sein, hoffte Eva. „Doch die Erschöpfung war stärker als zuvor, und ich bin in ein tiefes Loch gefallen.“ Die AYA-Gruppe habe ihr geholfen, Schritt für Schritt wieder hochzukommen.
Begeistert vom Törn
Bei einem dieser Treffen hatte Anna begeistert von ihrem Segelerlebnis berichtet. „Das wollte ich auch machen, sobald ich mich besser fühlte“, beschloss Eva. Sie rief Marc Naumann an, den Gründer der „Segelrebellen“, dessen Leben während des Studiums durch einen Hirntumor auf den Kopf gestellt worden war. Der Jurist, Journalist und Profi-Skipper bietet die Offshore-Törns seit 2014 an.
Für Eva gab es kurzfristig einen freien Platz auf dem Einmaster „Arielle“: Im April 2017 segelte sie von Rügen nach Flensburg; ein Wendepunkt in ihrem Leben, wie sie erzählt. Sie habe es genossen, wenn der Motor ausgeschaltet wurde und nur noch das Klatschen des Wassers, das Flattern der Segel und kreischende Möwen zu hören waren. In ihrer Koje habe sie sich geborgen gefühlt „wie in einer Höhle“. Das Thema Krebs spielte an Bord nur eine Nebenrolle. „Jeder erzählt seine Geschichte, aber du musst nicht viel reden, wenn es dir mal nicht so gut geht. Die anderen wissen ja Bescheid.“ Eva hat bei diesem Törn festgestellt, wie viel Kraft in ihr steckt. „Ich war fünf Stunden an Deck und kein bisschen müde. Großartig.“ Und sie hat sich „vollkommen ins Segeln verliebt“. Mittlerweile hat sie mehrere Reisen mit den „Segelrebellen“ unternommen und engagiert sich für die gemeinnützige Organisation.
Auch Anna ist wieder mitgesegelt, beim letzten Mal gemeinsam mit Eva auf der Nordseewoche, einer großen Regatta vor Helgoland, bei der die Fotos auf diesen Seiten entstanden sind. Der erste Törn aber ist ihr besonders wichtig. „Das war meine Wende, danach ging es bergauf. Nach der Reise habe ich wieder den Mut gefunden, in die Zukunft zu denken und Pläne zu schmieden.“
Anna hat angefangen, Poster und Flyer für die „Segelrebellen“ zu entwerfen, und eine zweijährige Umschulung zur Mediengestalterin gestartet, die sie in diesem Sommer abschließen wird. Ihr schönstes Erlebnis hatte sie gleich am ersten Tag des Törns, beim abendlichen „Bordfunk“: Bei der Tonaufnahme berichtete jeder, wie es ihm am Tag ergangen war. Als Anna an die Reihe kam, überlegte sie kurz, sagte dann: „Mir ist gerade eingefallen, dass ich den ganzen Tag nicht an meine Krankheit gedacht habe.“ Und weinte vor Glück.
Mehr Infos:
www.segelrebellen.com